Bejo taucht ab

»Diese Dinger sind viel zu klein, sie passen mir nicht!« 

Bejo starrte missmutig auf den schwarzen Gummischuh, in den er gerade mal die Hälfte seines Fußes quetschen konnte. 

»Du bist einfach schon zu groß für die Kinderflossen, die ich mitgebracht habe, das ist alles«, kam die Antwort von Anja. Sie half gerade seiner kleinen Schwester Sari dabei, eine Tauchmaske aufzusetzen. Von hinten zerrte Radja an ihr, der nicht wusste, wie er die Schwimmweste anziehen sollte. Seufzend befreite Bejo seine Zehen wieder aus dem Fußteil und half dem mittleren Bruder mit der Weste. 

»Dann kann ich ja doch nicht mitkommen!«

Er musste einen bitteren Kloß runterschlucken. So sehr hatte er sich auf das Abenteuer ‚Schnorcheln‘ gefreut! Und jetzt passte ihm die Ausrüstung nicht. Er blinzelte die Tränen der Enttäuschung zurück. Als Dreizehnjähriger weint man nicht mehr wie ein Baby. 

»Natürlich kommst du mit!«, sagte Anja fröhlich. »Du kannst meine Sachen anziehen.« 

»Und was machst du?«

»Ich bleibe im Boot. Irgendwer muss doch auf euch aufpassen.«

»Ach so!« 

Erleichtert atmete der Junge auf. Die blonde Frau aus Deutschland sprach gut genug Indonesisch, um sich verständlich zu machen. Bejo, der sofort gefragt hatte, woher sie das konnte, war völlig verblüfft gewesen, dass sie es extra wegen dieser Reise gelernt hatte, über ein Jahr lang. Fast genauso lange hatte sie gespart, um mit dem großen Koffer voller Ausrüstung hierher zu kommen und den indonesischen Kindern Schnorcheln beizubringen. Sie hatte ihnen Bilder gezeigt, wunderschöne Fotos von Fischen, Korallen und den erstaunlichsten Lebewesen. Bejo glaubte kaum, dass es all diese Dinge hier geben sollte, obwohl er schon sein ganzes Leben lang direkt am Meer wohnte, genauer gesagt in Manado, der Hauptstadt von Nordsulawesi. Im Hafen sowie in der Umgebung war das Wasser trüb und schmutzig. Besonders viele Fische gab es da bestimmt nicht, erst recht keine Korallen. Dafür konnte man oft Plastiktüten und interessante Dinge am Ufer finden, die irgendjemand achtlos fortgeworfen hatte. Manchmal machte sich Bejo mit seinen Freunden auf den längeren Weg zum Strand, wo das Wasser sauberer war. Doch keiner von ihnen besaß eine Schwimmbrille oder gar eine richtige Tauchmaske. Sie gingen einfach nur rein und planschten vergnügt in den Wellen umher. Wenn Bejo ohne Brille untertauchte und die Augen aufriss, sah er ab und zu verschwommene Fische vorbeihuschen. Sie waren silbrig und längst nicht so schön wie auf den Fotos. Es gab auch nur Sandgrund.

Aber an diesem Tag sollte er mit fünf weiteren Kindern gemeinsam zu einem richtigen Korallenriff gebracht werden, um dort zu schnorcheln! Bejo war sehr stolz darauf, ausgewählt worden zu sein, obwohl er einige Jahre älter war als die anderen. 

»Du kannst mir helfen, auf die Kleinen aufzupassen«, hatte Anja erklärt.

Nun drückte sie ihm Maske, Schnorchel, ein paar hellblaue Flossen sowie eine schwarze Weste in die Hand, eigentlich für Taucher gedacht. Zum Glück war die Deutsche nur ein bisschen größer als er, deshalb passten ihm die Sachen fast perfekt. 

Endlich hatten alle die richtige Ausrüstung gefunden, anprobiert und im flachen Wasser getestet, sodass jeder wusste, was er damit anstellen sollte. Sie stiegen in ein schmales Holzboot mit seitlichen Auslegern, das zu einer ansässigen Tauchbasis gehörte. Der Bootsführer ließ den Motor aufheulen, schon flitzten sie über die kleinen Wellen. Was für ein Spaß! Viel zu schnell für Bejos Geschmack wurde das Gefährt langsamer. Gespannt blickten alle auf die grünblaue Wasseroberfläche. Von hier aus konnte man gar nichts erkennen! Nur, dass die Färbung des Wassers ganz anders war als zu Hause. 

»Es sieht so schön aus«, flüsterte Sari ehrfürchtig. Anja lachte. 

»Warte ab, bis du deinen Kopf reinsteckst. Aber passt alle gut auf, dass ihr nichts anfasst und beim Boot bleibt. Das haben wir ja genau besprochen.«

Die Kinder nickten ernst. Dann ging es los! Bejo half erst seinen Geschwistern ins Wasser, während Anja die anderen jungen Schnorchler unterstützte. Schon ruderten sie als orangefarbene Farbkleckse im Blau vergnügt ums Boot herum. Radja hob den Kopf, nahm den Schnorchel aus dem Mund. 

»Bejo, das musst du dir angucken!«, strahlte er. »Jetzt komm endlich!« 

Eilig zog der Junge seine eigene Ausrüstung an. Anja half ihm dabei. Sie pustete durch einen Schlauch Luft in die Tarierweste, damit er nicht untergehen konnte. Dann sprang er ins Meer, den Schnorchel im Mund, die Hand an die Maske gedrückt, wie er es schon mal bei den Tauchern gesehen hatte. Es war ganz leicht. Einfach auf den Bauch legen, den Kopf ins Wasser halten und mit den Beinen schlagen. So jedenfalls hatte er sich das gedacht. Aber als er den ersten Blick unter die Wasseroberfläche riskierte, vergaß er vor Überraschung sogar beinah das Atmen! Alles war bunt, es gab so viele verschiedene Fische, kleine und große. Er erkannte welche von den Bildern wieder, deren Namen er sich gemerkt hatte: Riffbarsche, Doktorfische, Drücker- und Falterfische.

Der Junge lag, von der Weste getragen, reglos im Wasser, schaute und schaute. Er konnte sich nicht sattsehen am Schauspiel des Lebens im Riff. Es war wunderschön, noch viel prächtiger als auf den Fotos! Schließlich bewegte er seine Beine vorsichtig ein bisschen, um näher an die Korallen heranzuschwimmen. Er wollte unbedingt eins von den winzigen Seepferdchen finden, die es hier geben sollte. Leider gelang ihm das nicht. Okay, Anja hatte ihm vorher gesagt, dass dieser Wunsch sich wohl nicht erfüllen würde. Dafür entdeckte er eine schillernde Sepie, die ihn mit großen Augen musterte. Ein paar kleine bunte Garnelen fand er auch, obwohl sie zwischen den Fächern der Korallen schwierig auszumachen waren.

Schließlich spürte er, wie ihn etwas am Bein zupfte. Er sah auf und in das Gesicht seines Bruders, das sich halb hinter der Maske verbarg.

»Wir müssen zurück«, sagte Radja. »Alle anderen sind schon im Boot. Anja hat dich ganz oft gerufen. Hast du sie nicht gehört?« 

Bejo schüttelte wortlos den Kopf. Traurig warf er einen letzten Blick auf die Schönheit unter sich, bevor er die wenigen Meter zurückschwamm, die ihn von dem Gefährt trennten. 

»Na, bist du so sehr in die andere Welt abgetaucht?«, empfing ihn die blonde Frau augenzwinkernd. 

»Ja. Es war soooo toll ... Am liebsten würde ich jeden Tag hierherkommen«, strahlte der Junge. Anja sah ihn überraschend ernst an. 

»Jetzt weiß du, welchen Schatz es direkt vor eurer Haustür gibt«, sagte sie. »Ich hoffe, du wirst dafür sorgen, dass es ihn noch gibt, wenn du erwachsen bist und selbst Kinder hast.«

»Warum sollte es ihn nicht mehr geben?«, wunderte Bejo sich.

»Die Menschen werfen viel zu viel Müll weg. Der gelangt über die Flüsse ins Meer, treibt darin umher und wird von den Fischen gefressen. Aber diese sterben von dem Plastikzeug. Wenn das so weitergeht, wird es bald nur noch Plastiktüten zu sehen geben.«

»Ich werfe nie wieder was ins Meer!«, versprach der Junge inbrünstig. 

»Und ich sage es Mama und Papa. Sie sollen auch nichts wegwerfen«, fügte Radja hinzu. 

»Das ist gut. Wenn ihr euer Meer zu schätzen lernt, hat sich meine Reise gelohnt«, lächelte Anja. »Denn nur, was man kennt und liebt, möchte man schützen.« 

Bejo vergaß die Worte der Deutschen nie. Sobald er es schaffte, fragte er bei einer Tauchbasis nach Arbeit, verdiente sich mit dem Befüllen und Schleppen von Luftflaschen genug, um sich eine gebrauchte ABC-Ausrüstung mit Maske, Schnorchel und Flossen zu kaufen. Er wollte unbedingt tauchen lernen, sog alles auf, was er darüber in Erfahrung bringen konnte. In jeder freien Minute lernte er Englisch, übte Schnorcheln, half den Touristen beim Zusammenbau ihrer Tauchausrüstung. Sehr schnell kannte er sich überall aus. Er fragte den Mitarbeitern Löcher in den Bauch, bis sie ihn in die Geheimnisse des Tauchens einweihten. Gegen ganz viel freiwillige Arbeit bekam er den Wunsch nach einer Tauchausbildung erfüllt.

Heute arbeitet Bejo als Diveguide bei einer Basis auf der Insel Bunaken, einem seiner Heimatstadt vorgelagerten Naturschutzgebiet. Er begleitet Taucher aus aller Welt in die Schönheit des Meeres und sorgt mit weiteren Freiwilligen dafür, dass regelmäßig das Plastik aus dem Wasser gefischt wird. Ab und zu, wenn die Arbeit ihm Zeit dazu lässt, besucht er die Schulen in Manado. Dort zeigt er den Kindern Unterwasseraufnahmen, erzählt von dem Schatz, der sich direkt vor ihren Augen versteckt und erklärt, wie sie ihn schützen können. Jeder spürt, wie ernst ihm diese große Liebe ist. Deshalb weckt er in vielen indonesischen Schülern die Sehnsucht, ebenfalls die Unterwasserwelt ihrer Heimat kennenzulernen - Bejos Welt.