Der Weihnachtsstern 

Jasper schreckte aus der zusammengesunkenen Position vor dem Heizkörper auf.

War er doch tatsächlich schon wieder eingenickt! Etwas benommen massierte er in gewohnter Weise seine taub gewordenen Finger und streckte sich. Was wollte er doch gleich noch tun? Ach ja, der Fernseher. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es beinah Zeit für seine Lieblingssendung war. Zumindest vermutete er dies, da die Zeiger seiner Armbanduhr schon lange zu klein und die der Wanduhr durch die Dunkelheit zu schemenhaft waren, um sie genau zu erkennen. Dennoch, sein Gefühl sagte ihm, dass es jetzt höchste Zeit wäre, seinen besten und einzigen Freund zu aktivieren, dieses liebgewonnene Gerät, das ihm schon seit etlichen Jahren treue Dienste leistete.

Wo war bloß die Fernbedienung hin? Ach ja, drüben auf dem kleinen Schränkchen, wo er sie vorhin abgelegt hatte. In letzter Zeit musste Jasper häufig länger darüber nachdenken, wo er irgendetwas hingelegt hatte, als es gedauert hätte, danach zu suchen. Wäre ihm früher nie passiert, wo er doch so stolz auf sein fast fotografisches Gedächtnis war. Aber dieses phänomenale Erinnerungsvermögen ließ ihn nun immer öfter im Stich und das, wo auch die Beine und der Rücken ihm das Suchen recht schwer machten. Ächzend und fluchend erhob er sich aus dem bequemen Fernsehsessel, den er so nah wie möglich an der Heizung postiert hatte, um seine ständig frierenden Knochen aufzuwärmen.

Da lag das kleine schwarze Gerät, gänzlich unschuldig an Jaspers Kreuzschmerzen, und dieser nahm sich gewiss zum hundertsten Male vor, es nie wieder außer Handreichweite zu legen. Er richtete das Ding auf den großen Kasten in der Zimmerecke und tröstlich bunte Bilder flimmerten durch den dunklen Raum.   Jasper runzelte die Stirn. Etwas stimmte nicht mit dem Programm. Das war nicht seine Sendung, die da lief. Irgendein Spielfilm, wie es schien. Was war bloß los, dass sie seine Soap nicht brachten, die es sonst jeden Abend um diese Zeit gab? Erst nach einigen Sekunden angestrengten Nachdenkens fiel es ihm ein: Heute war Weihnachten. Die Erkenntnis traf ihn mit härterer Wucht, als er erwartet hatte.

Hols der Deubel, dieses blöde Fest!, murmelte er, doch seine Kehle war rau.

Er brauchte jetzt unbedingt einen Schluck aus der kleinen Flasche, die er für solche Gelegenheiten aufbewahrte. So, nun ging es ihm schon besser. Trotzdem brauchte er noch etliche Minuten, um den Verlust seiner täglichen, gewohnten Zerstreuung zu verkraften. Mit Schrecken wurde ihm bewusst, dass er absolut keine Idee hatte, was er mit dieser neu gewonnenen Zeit anfangen konnte. Das restliche Fernsehprogramm, das er rasch durchzappte, sagte ihm nichts. Im Radio brachten sie nur Weihnachtsmusik, die ihn mehr als alles andere daran erinnerte, dass es für ihn längst keinen Anlass mehr gab, dieses Fest zu feiern.

Einigermaßen frustriert ließ er sich schließlich wieder in seinen Sessel fallen und starrte in Selbstmitleid versunken aus dem Fenster, oder besser auf sein Spiegelbild, dass sich in der dunklen Scheibe abzeichnete. Er war sich wohl dessen bewusst, dass er albern reagierte, überzogen, wie ein trotziges Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Aber er konnte nichts gegen dieses Gefühl von Verlust und Enttäuschung tun. Eine störrische Träne schlich sich heimlich aus dem Augenwinkel und lief unbehelligt über die faltige Wange seines Gesichts.

Lange saß er so da und blickte ins Nirgends. Langsam verschwanden die Wut und die Frustration, die ihm den Blick auf die Schönheit des Abends verstellt hatten. Es war eine eisige, klare Stille, die ihm von draußen entgegenkam. Kleine Eisblumen hatten sich am Fensterrand gebildet und schufen einen malerischen Rahmen für das winterliche Bild, das sich Jasper noch gut erkennbar hinter seinem eigenen darbot. Die Dächer der Stadt funkelten und glänzten matt, als würden sie mit ihrem hauchdünnen weißen Überzug das Licht der Sterne widerspiegeln. Und was das für ein großartiger Sternenhimmel war!

Jaspers Unmut verflog gänzlich, als er sich aufmerksamer diesem wundervollen Naturschauspiel zuwandte. Er schob sich dicht an das Glas und sperrte mit den Händen das Licht aus dem Wohnzimmer aus. So klar und dunkel war die Nacht, dass er von seinem hohen Standpunkt aus fast alle Sternbilder des Winterhimmels deutlich erkennen konnte. Sie schienen ihm vertraute Bekannte, liebgewonnen in endlosen Nächten, die er sie geduldig und mit großer Hingabe betrachtet hatte.

Schließlich hielt es ihn nicht länger an seinem Platz und er machte sich an den beschwerlichen Aufstieg zum Dachboden. Spinnweben verklebten die Luke, als er sich von unten dagegen stemmte. Sie erinnerten ihn daran, dass es lange her war, seit er diesen Gang zum letzten Mal beschritten hatte. Faul war er geworden, faul und desinteressiert an der Welt und ihren Geheimnissen.

Früher wäre dir das nie passiert!, murmelte er, während er sich die klebrigen Fäden vom Pullover wischte.

Dann betrat er das Allerheiligste‘, seine private und persönliche Dachkammer mit dem großen Dachfenster, unter dem sein größter Schatz stand das Sternenteleskop. Früher hatte er fast jeden Abend und so manche Nacht hier zugebracht. Die Himmelslichter hatten es ihm angetan, schon immer.

Rasch nahm er die vertraute Beobachter-Position ein, erledigte automatisch alle notwendigen Handgriffe und vertiefte sich in das Lichterspiel. Die Sicht in den Himmel war wirklich großartig. Jasper stieß unwillkürlich verzückte Jubelrufe aus, als er Sterne erblickte, die er zum letzten Mal ja, wann war das gleich? vor vielleicht sechs oder sieben Jahren hatte sehen können. Systematisch wanderte er mit seinem Wunderglas über den Himmel, folgte vertrauten Pfaden und erinnerte sich an die Namen der Lichter, die er sich schon vor so langer Zeit eingeprägt hatte.

Schließlich verharrte sein Blick an einem seltsamen Phänomen, bekannt und doch so selten, dass er manchmal vergaß, danach Ausschau zu halten. Ein anerkennendes Pfeifen entfuhr seinen Lippen und sein Herz machte einen Satz.

Mich laust der Affe!, murmelte er und rieb sich die Augen. Doch als er wieder hinsah, war das Bild, das sich ihm bot, noch dasselbe. Da war er der Komet. Unscheinbar und selbst durch das starke Teleskop kaum größer als ein Stecknadelkopf, aber zweifellos da.

Augenblicklich überlegte Jasper angestrengt, ob er etwas über einen sich nähernden Kometen gehört hatte  - nein, nichts. Weder in den Nachrichten noch in der Zeitung. Bei solchen Dingen ließ ihn sein Gedächtnis nun doch nicht im Stich.

Der alte Mann fühlte, wie das Blut durch seine Adern rauschte und wie sein Herz schneller schlug. Was für ein Anblick was für eine Entdeckung! Er sprang auf, wie ein mindestens zehn Jahre Jüngerer und wurde sogleich mit stechenden Schmerzen in der linken Hüfte bestraft. Doch er ignorierte dieses Gefühl, angespornt von dem Adrenalinschub, der ihn erfasst hatte und stürmte die steilen Stufen hinab zum Telefon. Mit zitternden Händen wählte er die vertraute Nummer des Instituts und horchte auf das Freizeichen.

Nun nimm schon ab, grummelte er. Ich weiß doch, dass du da bist, du alter Hund ...

Prischke-Institut, mein Name ist Emma Wunstorf, was kann ich für Sie tun?

Es war eine Frauenstimme, ganz und gar nicht das, was er erwartet hatte.

„Äh ist Ottmar Prischke nicht da?

Jasper kam sich mächtig dämlich vor, während er diese plumpe Frage formulierte.

Herr Prischke ist krank und liegt im Bett, erwiderte die höfliche, angenehm klingende Stimme. Ich bin Emma Wunstorf, seine Vertretung. Mit wem spreche ich bitte?

„Äh Jasper Lohmann. Ich ... ich wollte ...

Plötzlich war es ihm fürchterlich peinlich, weiterzusprechen. Sicherlich hatten sie den Kometen längst entdeckt und festgestellt, welcher es war.

 Nun, Herr Lohbach! Wenn Sie etwas sagen möchten, dann tun Sie es am besten jetzt, denn eigentlich habe ich schon lange Feierabend und wenn ich weg bin, treffen Sie hier vor Donnerstag niemanden mehr an. Also, was gibts?

Mein Name ist Lohmann, nicht Lohbach. Und ich wollte eigentlich den Herrn Prischke sprechen, da wir uns bereits viele Jahre kennen und uns ein gemeinsames Hobby beziehungsweise, bei ihm ist es ja nun schon lange mehr als das verbindet, wissen Sie.

Das mag sein und ich bedaure ja auch, dass Sie Ihren Freund hier nicht antreffen, aber es ist nun mal so. Wenn Sie Ihr Anliegen vertretungsweise auch mir vortragen möchten, dann tun Sie es bitte schnell!

Ja, wissen Sie ..., Jasper räusperte sich, um die Kehle frei zu machen, ich habe soeben mit dem Teleskop bei mir auf dem Dachboden einen Kometen entdeckt und da wollte ich fragen ...

Einen Kometen?, unterbrach ihn die fremde Frau. Ihre Stimme klang verblüfft. Uns liegen keine Informationen darüber vor, dass heute Nacht einer zu sehen sein soll. Sind Sie sicher?

Selbstverständlich! Schauen Sie doch selber nach, wenn Sie mir nicht glauben. Knapp südöstlich vom kleinen Wagen, wenn ich mich richtig erinnere, klein aber mit schönem Schweif.

Einen Moment, bleiben Sie dran!

Jasper hörte, wie der Hörer abgelegt wurde und dann eilige Schritte. Er wusste, dass sie jetzt zum großen Sternenteleskop laufen und nachsehen würde, ob an seiner Behauptung etwas dran war. Ihm klopfte das Herz und er jubelte innerlich, weil er offensichtlich als Erster anrief.

Nach kaum fünf Minuten wurde der Hörer wieder aufgenommen und Jasper hörte ein leicht asthmatisch klingendes Keuchen. Die gute Frau war sicherlich auch nicht mehr die jüngste und er fühlte sich dadurch irgendwie mit ihr verbunden.

Sie haben recht!, schnaufte sie und man hörte ein dumpfes Geräusch, als sie sich in den Sessel neben dem Telefon fallen ließ. Da muss ich doch gleich den Chef anrufen, Grippe hin oder her. Das wird er unbedingt wissen wollen!

Tun Sie das, Frau Wunstorf. Ottmar freut sich über jeden neuen Stern wie verrückt, der ist noch schlimmer als ich. Vielleicht macht ihn diese Nachricht ja schlagartig wieder gesund. Dann kommen wir beide ins Institut und begießen die Sache ordentlich. Vor allem, da heute doch Weihnachten ist.

Da haben Sie auch recht, ja, Weihnachten ... Einen richtigen Weihnachtsstern haben Sie da entdeckt, Herr Lohmann. Sie werden vielleicht noch berühmt!

Einen Augenblick lang schwieg die sympathische Stimme am anderen Ende der Leitung und Jasper überlegte schon, ob die Verbindung unterbrochen war. Dann hörte er ein leises, mädchenhaftes Kichern.

Warum lachen Sie?, fragte er leicht irritiert.

Wissen Sie, ich stelle mir gerade vor, wie Sie und Herr Prischke und ich, wie wir hier sitzen und Sekt trinken und einen Weihnachtsstern taufen den wir natürlich nach Ihnen benennen -  wie wir also hier sitzen und feiern und keiner sonst weiß darüber Bescheid ...

Wieder Kichern.

Jasper wurde davon angesteckt und schmunzelte. Die Idee hatte etwas durchaus Reizvolles an sich, oh ja. Wenn man sie länger betrachtete, erschien sie sogar sehr verlockend.

Wenn Sie so davon sprechen, dann würde ich am liebsten gleich eine Flasche einpacken und mich auf den Weg machen., sagte er halb lachend.

Dann tun Sie es doch!, kicherte die Frau. Ich hab heute Abend sowieso nichts Besonderes vor.

Ich ... eigentlich auch nicht. Möchten Sie wirklich, dass ich vorbeikomme? Überlegen Sie es sich gut, denn wenn Sie ja sagen, dann bin ich gleich unterwegs!

Ein Rendezvous im Sterneninstitut? Oh, ja, bitte! Ich hatte schon so lange keines mehr!

Das mädchenhafte Kichern verstummte. Würden Sie mir dann einen Gefallen tun, wenn Sie herkommen?

Selbstverständlich, wenn ich etwas für Sie tun kann ...

Bitte rufen Sie Herrn Prischke an, als Freund, nicht als Kollege oder Chef. Von Ihnen wird er es sicherlich sehr viel lieber hören als von mir. Außerdem haben Sie ja den Stern entdeckt, nicht ich.

Jasper nickte, dann fiel ihm ein, dass seine Gesprächspartnerin es nicht sehen konnte und sagte: Ja, das tu ich gerne. Wollte den alten Haudegen schon so lange anrufen, habs immer wieder rausgeschoben. Mach ich, wenn ich da bin.  Dann bis gleich!

Bis bald!, erwiderte die freundliche Frauenstimme.

Jasper legte auf und verließ das Zimmer, um eine Flasche Rotwein und zwei Gläser zu besorgen. Dabei fiel ihm das Lied Stern über Bethlehem ein und was es damals für die Weisen bedeutet hatte, jenem Himmelskörper zu folgen.

Er summte die Melodie und schmunzelte. Er hatte jetzt seinen eigenen Weihnachtsstern, dem er folgte. Und vielleicht - ja vielleicht führte dieser ihn auch zu seinem Glück, so wie jener damals all diejenigen beglückt hatte, die ihm nachgingen.

Zumindest begann soeben etwas Neues, das spürte er.

 

Sein ganz persönliches Weihnachten.

 

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