DER BETTLER

Es war kurz vor Heiligabend, als mir der Bettler auffiel.

Er saß wie so viele vor ihm und mit ihm in der weihnachtlich geschmückten Fußgängerzone der Innenstadt, wo sich die endlosen, hastigen Ströme der Einkäufer an ihm vorbeischoben. 

Kaum einer, der ihn auch nur ansah, weil jeder nur mit sich selbst beschäftigt war.

Es ging bereits auf Abend zu, doch der Mann war dank der ewigen Lichterketten und Schaufenster - Festbeleuchtung deutlich zu erkennen. Er saß nicht etwa – wie die meisten seiner Kollegen – auf einer Decke oder gar auf dem nackten Kopfsteinpflaster. Nein, würdevoll thronte er auf einem billigen Klappstuhl. Er blickte auch nicht zu Boden oder starrte an mir vorbei ins Leere, als ich näherkam. 

Nein, er sah mich direkt an, und es lag etwas Merkwürdiges in diesem Blick, was mich irgendwie berührte. 

Jedoch am meisten faszinierte mich das Pappschild, fast schon ein richtiges Plakat, welches er vor sich auf dem Boden stehen hatte. Darauf stand in säuberlich großer Schrift zu lesen:

 

Seien Sie großzügig zum Fest – 

ich bin es auch!

Ihr Geld gegen meine Würde !

 

Diese Worte trafen mich, lösten ein verwirrendes Kaleidoskop von Gefühlen in mir aus, obwohl ich nicht einmal sagen konnte, warum.

Einerseits war ich belustigt – endlich mal einer, dem was Originelles einfiel, mal was anderes als die üblichen Sprüche wie: ‚Bin arbeitslos und habe Hunger‘ oder so ähnlich.

Der Text war bitter und ironisch. Was ihn aber völlig absurd machte, war die ausnehmend würdevolle, stolze Erscheinung in abgetragener Kleidung. Der Typ blickte mich an, als wäre ICH diejenige, die Hilfe bräuchte und als wäre ER derjenige, der sie mir geben könnte, wenn er nur wollte.

Irgendwie konnte ich nicht anders, als mein Portemonnaie hervorzukramen und hineinzuschauen, während ich am liebsten vorbeigegangen wäre.

Tatsächlich förderte ich eine mittelgroße Münze zutage, die ich scheu in den dafür bereitstehenden Pappteller fallen ließ. 

Der merkwürdige Blick verfolgte die Bewegungen und zog den meinen magisch an. Obwohl ich mich normalerweise sofort wieder abwende, wenn ich (was selten genug geschieht) Geld an Menschen verteile, konnte ich mich diesem Blick nicht entziehen. Er schien mich auf meinem Platz festzunageln, indes alle Welt achtlos vorübereilte. 

Die Mundwinkel meines Gegenübers verzogen sich leicht verächtlich und nach kurzem Zögern nickte er mir so hoheitsvoll zu, als hätte er soeben entschieden, mein ‚Opfer‘ gnädig anzunehmen.

Ich war immer noch wie erstarrt, während ich dieses Verhalten beobachtete.

Dann jedoch kam Bewegung in mich.

„Ich hoffe, es macht Ihnen keine Umstände, das Geld einzusammeln“, sagte ich in der Hoffnung, einmal in meinem Leben schlagfertig zu sein und solche Sachen, die mich sonst nachher ärgern, nicht schweigend hinzunehmen.

Irgendwie erwartet man ja doch Dankbarkeit, zumindest aber keinen Hohn, wenn man meint, jemandem gerade geholfen zu haben, oder?

„Kein Problem, es ist ja nicht viel!“, kam prompt die ebenso trockene wie unverfrorene Antwort. 

„Ich kann’s auch wieder mitnehmen, wenn es Ihnen nicht passt!“, schnappte ich und drehte mich abrupt um, da ich mich wirklich leicht gekränkt fühlte. 

Doch ein Geräusch hinter mir ließ mich innehalten und mich erneut umdrehen. 

Der Kerl lachte!

Es war ein durch und durch fröhliches Lachen, keine Spur von Häme oder Verachtung, Spott oder Hohn. Es war, als würde er sich köstlich amüsieren über das, was ich soeben aus Ärger gesagt hatte.

Ich blickte erneut in das etwas unordentlich wirkende Gesicht, das nun lachend mit einem Mal sehr sympathisch wirkte.

Wie um meinen Mangel an Schlagfertigkeit und ‚Coolness‘ in solchen unerwarteten Situationen zu betonen, fragte ich dämlich: „Warum lachen Sie so?“

Der Mann auf dem Klappstuhl, immer noch von leichten Heiterkeitsausbrüchen geschüttelt, wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und bedeutete mir mit der anderen Hand, näher zu kommen.

Trotzdem ich mich für weltaufgeschlossen und tolerant halte, muss ich gestehen, dass ich hier zögerte, der Aufforderung nachzukommen. Schließlich war dies ein absolut Fremder, dazu noch ein mittelloser Mensch, wie es schien, unrasiert, unordentlich, vermutlich ungewaschen und für mich unberechenbar.

Womöglich war er irgendwie ansteckend oder gewalttätig?

Schließlich überwanden meine angeborene naive Menschenfreundlichkeit und die aufkeimende Neugierde dieses beschämende Misstrauen und ich trat einen Schritt heran.

Doch der Bettler, nachdem er sich übertrieben nach allen Seiten hin versichert hatte, dass uns niemand sonst beachtete, winkte mich noch näher.

Ich überwand mich abermals und beugte mich auf alles gefasst zu dem Mann herab.

Zu meiner Überraschung pustete er mir weder eine Alkoholfahne entgegen, noch stanken seine Kleider in irgendeiner Weise, als er mir ins Ohr flüsterte: 

„Berufsgeheimnis, dürfen Sie keiner Menschenseele erzählen – ich bin überhaupt kein Bettler, sondern Schriftsteller. Verraten Sie das bloß nicht, hören Sie!“

„Dann sitzen sie wohl bloß zum Spaß hier und amüsieren sich deshalb so köstlich über die Trottel, die ihnen Geld geben“, gab ich ebenso leise und spöttisch zurück und richtete mich wieder auf. Entweder war der Mann ein kompletter Spinner, oder er verkohlte mich.

Mein Gegenüber grinste leicht und hob abwehrend eine Hand.

„Schlagen Sie mich nicht, es stimmt wirklich! Ich bin ein bettelnder Schriftsteller, da momentan ohne festes Einkommen und ziemlich pleite ... Glauben Sie bloß nicht, dass jemand so was zum Spaß macht. Würden Sie es etwa amüsant finden, den ganzen Tag in der Kälte am Straßenrand zu sitzen, zu frieren und dafür einen Stundenlohn zu bekommen, der am Ende gerade mal für ’n Bier und ’n Sandwich reicht?“

Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf.

„Sehen Sie! Ich könnte mir auch was Schöneres vorstellen als hier zu hocken, aber ich hab nun mal zwei kleine Jungs, die sich zu Weihnachten dringend eine Eisenbahn wünschen, kein Geld, sie ihnen zu kaufen und keine Frau mehr, die es verstünde, die Kleinen über eine solche Enttäuschung hinwegzutrösten ...“

„Dann sind Sie also doch arbeitslos?“

„Als freier Schriftsteller? Ja und nein. Ich lebe zwar nicht auf der Straße und erhalte monatlich meine Sozialhilfe, aber davon lässt sich halt keine Eisenbahn finanzieren, wenn die letzten zwei Bücher Flops waren ...“

„Und nur dafür sitzen Sie hier – um ihren Kindern ein Weihnachtsgeschenk kaufen zu können? Warum jobben Sie nicht aushilfsweise im Kaufhaus oder bei McDonalds oder so ... wäre doch viel effektiver ...“

Der Mann zuckte die Achseln, dann beugte er sich etwas vor.

„Weil ich eine Idee hatte, die mich reich machen wird“, raunte er mir zu. Er sah sich noch einmal um, ob uns jemand belauschte. Es wirkte eigentlich ziemlich lächerlich in Anbetracht der vielen Leute und des geschäftigen Lärms um uns herum. 

Dann sagte er leise: „Sie müssen mir versprechen, es keinem zu sagen. Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist streng vertraulich!“

Ich gelobte zu schweigen.

„Also“, fuhr er fort, „ich sammle auf diese Art Informationen für mein neues Buch, an dem ich schreibe.“

„Etwa eine Studie über Bettler? Da fehlt Ihnen aber noch einiges!“, entgegnete ich bissig. 

„Aber nein“, wehrte der Schriftsteller ab, „so was wäre bestimmt auch ganz interessant, aber längst nicht so einträglich, wie das, was ich vorhabe. Ich schreibe eine Anleitung zum richtigen Betteln.“

„Wie bitte?“ Ich blickte den Mann argwöhnisch an, ob er sich vielleicht über mich lustig machte, doch dieser blieb völlig ernst.

„Na, Sie wissen doch wohl, was eine Anleitung ist? Eine Art Führer, der gute Plätze, die richtigen Methoden und Zeiten beschreibt. Eine Gebrauchsanweisung, wie man am besten und am schnellsten Geld auf der Straße verdient.

Lachen Sie nicht, es kommt tatsächlich sehr darauf an, wie man sich verkauft ...“

„So wie Sie sich hier verkaufen, verdienen Sie bestimmt nicht viel“, meinte ich und deutete auf den Klappstuhl und das Pappschild.

„Woher wollen Sie das wissen? Solange wir uns hier unterhalten, wird sowieso niemand anders was springen lassen. Ist auch so ein Gesetz der Bettelei. Hat was mit der Psyche zu tun, steht alles in meinem Buch. Ich bin zwar kein Seelendoktor, aber ich vermute, es muss was mit der Angst zu tun haben, kritisch beobachtet zu werden, während man was Ungewöhnliches tut.“

Es kam mir peinlich zu Bewusstsein, dass ICH zumindest ja schon auf diese abstruse Art des Bettelns angesprungen war. Der Mann hatte also recht. Warum sollte es bei anderen nicht auch wirken?

„Und wie lange machen Sie das hier schon?“, fragte ich interessiert, auch um von dem Gedanken gerade abzulenken.

„Seit Anfang November, jeden zweiten Tag“, antwortete der Schriftsteller und seufzte dabei.

„Ich habe Sie hier noch nie gesehen, wo sind Sie denn sonst immer?“, bohrte ich weiter. Es kam mir noch ziemlich unglaubwürdig vor, und ich war mir durchaus nicht sicher, ob ich nicht doch dabei war, auf irgendeine Hinterhältigkeit reinzufallen.

„Ich bin natürlich immer woanders, trage verschiedene Sachen, benehme mich anders, spiele unterschiedliche Persönlichkeiten ... möchte ja nicht, dass mich jemand erkennt und meinen Schwindel aufdeckt. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Sie schweigen.“

Ich fragte mich innerlich, warum er mir das dann alles erzählte, wo er mich doch gar nicht kannte. Aber ich äußerte es nicht laut, da ich unbedingt den Rest der Story hören wollte.

„Und dann, wenn das Buch fertig ist, was machen Sie dann?“, überlegte ich. „Wer soll es überhaupt lesen? Die Bettler kaufen es sich bestimmt nicht! Und wer sollte sich sonst dafür interessieren?“

„Na, Sie zum Beispiel“, entgegnete mein Gegenüber glatt.

„Geben Sie es doch zu – Sie sind jetzt schon neugierig auf dieses Buch, auch wenn es noch gar nicht fertig ist.“

„Nun ja, wenn Sie mir so davon erzählen ...“

„Glauben Sie mir ruhig, wenn ich sage, dass so was bei den Leuten völlig in ist. Sie lesen gerne etwas, das eigentlich für einen ganz anderen Personenkreis gedacht scheint. Vor allem, wenn sie über die tatsächlichen Adressaten so gut wie gar nichts wissen. So erfahren sie wenigstens was über Bettler und über die Tricks, mit denen sie arbeiten. Jeder hat ja so seine Vermutungen, aber endlich bekommt man Gewissheit.“

Ich begann zu begreifen.

„Da haben Sie ja vielleicht wirklich eine gute Geschäftsidee gehabt“, meinte ich anerkennend. „Bloß schade, dass es den Bettlern selbst so wenig bringt.“

„Aber wieso denn! Sie können das Buch doch ebenfalls lesen, wenn sie drankommen und die Tipps darin nutzen. Vielleicht gibt’s ja mal irgendwen, der barmherzig genug ist, es ihnen zu ermöglichen. Außerdem profitieren sie schon davon, dass andere es gelesen haben, die dann wenigstens mal genauer hinsehen, wenn sie vorbeigehen. Das ist ein umgekehrter psychologischer Effekt, falls Sie verstehen.“

Mir ging eine ganze Batterie von Lichtern auf! 

Ich nickte und sah unwillkürlich auf meine Armbanduhr. 

„Oh, nein!“, rief ich und fuhr auf, während ich mich selbst einen Idioten schalt. Hastig verabschiedete ich mich von meiner neuen Bekanntschaft mit der Erklärung, es sei schon viel zu spät und ich müsse noch dringend Einkäufe erledigen.

Der Bettler schüttelte resigniert den Kopf und murmelte irgendetwas von ständiger Hast und Eile vor dem Weihnachtsfest und dass niemand die Ruhe habe, sich anständig zu unterhalten.

„Denken Sie an Ihr Versprechen!“, rief er mir nach. Ich wandte mich im Gehen um und winkte ihm zu. 

„Bestimmt!“, rief ich zurück und war auch schon hinter der nächsten Biegung, so dass ich die Gestalt nicht mehr sah.

Ich traf den Mann nie wieder, doch etwa ein Jahr später entdeckte ich im Schaufenster einer Buchhandlung, bei der ich regelmäßig die Neuerscheinungen durchsah, ein Taschenbuch mit dem Titel:

 

‚Betteln leicht gemacht – ein Handbuch mit Tricks und Tipps zum richtigen Geldverdienen auf der Straße‘. 

 

Es war geschrieben von einem ‚Thomas Rich‘, sicherlich ein Pseudonym meines Bettlers.

Natürlich erstand ich das preiswerte Bändchen sofort, las es und schenkte es allen meinen Bekannten zu Weihnachten.

Die Bettelmethode, die ich bei meiner Begegnung mit dem Autor erfahren habe, und die er in seinem Buch ‚provokatives Betteln‘ nennt, beschreibt er darin übrigens als „nicht besonders effektiv“, da sie lediglich „die rebellischen und die herzensguten Menschen“ anspräche, von denen es – leider – viel zu wenige gäbe.

Ich hege keinen Zweifel daran, dass er sich auf diese Art für mein Schweigen bedanken wollte, aber es war völlig unnötig.

Jenes kleine Stück Kinderglück, das ich ihm damals geschenkt hatte und welches ich im Buch als amüsante Randepisode beschrieben fand, hatte er mir jedenfalls schon längst vielfach zurückgezahlt.

 

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