Beginn

Er keuchte. Lunge und Oberschenkel brannten von einem endlosen, unmenschlichen Lauf durch diese fremde, dennoch vertraute Stadt, die vor seinen Augen geräuschlos zerfiel. Gebäudeteile stürzten ein, Trümmer und Staub bedeckten die Straßen. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wie er hierhergekommen war oder was er vorher getan hatte. Die Suche nach seinem Gegenstück, das alles wieder in Ordnung bringen würde, beherrschte sein gesamtes Denken. Orientierungslos, ziellos rannte er durch dunkle, marode Straßen, sprang über Trümmerstücke und Risse im Boden. Wie sein Pendant aussah, wusste er nicht, lediglich, dass er diesen Menschen unbedingt finden musste. Und zwar so schnell wie möglich. Alles hing davon ab. Die wenigen Gestalten, denen er begegnete, blieben blass, gesichtslos, wirkten gleichgültig. Sie schienen sich nicht dafür zu interessieren, was mit ihnen geschah, falls er seine Aufgabe nicht erfüllte. Anfangs hatte er versucht, sie um Hilfe zu bitten, sie aus ihrer Lethargie aufzurütteln. Es war vergebliche Mühe gewesen. Jetzt rannte er nur noch, blind für die Umgebung, auf den einzig verbleibenden Sinn seines Daseins ausgerichtet.

 

Dann sah er sie: eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie saß in sich zusammengesunken am Straßenrand neben einer Ruine, den Kopf in den Händen vergraben. Er näherte sich beinah schüchtern, wusste instinktiv, dass er am Ziel seiner Suche angekommen war. Sein Herz hämmerte wie wild in der Brust, als wollte es jeden Moment zerspringen.

 

Sie hob den Kopf, obgleich er nichts gesagt und keinen Laut verursacht hatte. Ihre ebenmäßigen, jugendlichen Gesichtszüge faszinierten ihn einen Augenblick lang, bevor er in den tiefblauen Augen versank. Sie war trotz ihrer sichtlichen Erschöpfung das schönste Geschöpf auf Erden. Unendliche Erleichterung ließ ihn tief durchatmen, löste die Enge in seiner Brust. Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, erhellte es, wurde zu einem Strahlen, das ihre gesamte Gestalt erfasste.

 

Sie hatten sich gefunden. Endlich. Ihre Hände empfingen seine, schlossen sich unendlich zart darum.

 

Für eine Sekunde schien alles wieder im Lot, bevor die Gestalt vor ihm in einer lautlosen Explosion zu Millionen Scherben zerbarst. Die Wucht schleuderte ihn zurück. Er schrie auf. Ein unmenschlicher Schmerz zerriss seine Brust, seine Glieder standen in Flammen, doch er spürte die Hitze nicht. Mit ohnmächtigem Entsetzen sah er zu, wie seine Hände zerfielen, zerstoben wie Asche im Wind. Sein Schrei erstarb. Dunkelheit hüllte ihn ein, begleitete seinen Fall ins Bodenlose.

 


Auszüge aus dem 1. Kapitel

Brügge, 17.04.18  16:25

 

Mit Herzklopfen sowie einem flauen Gefühl im Magen trat Mathis pünktlich durch die Praxistür von Dr. Schmitter. Mechanisch erwiderte er den Gruß der lächelnden Dame hinterm Empfangstisch. Er durfte direkt ins Behandlungszimmer durchgehen, wo er wie auf heißen Kohlen ganz am Rand des bequemen Sessels saß, bis der Psychologe erschien.

 

„Wie geht es Ihnen?“, begrüßte dieser ihn mit einem prüfenden Blick, der bis in seine Seele zu dringen schien.

 

„Ganz ordentlich“, log Mathis gewohnheitsmäßig, korrigierte sich jedoch gleich darauf. „Na ja, eigentlich nicht so prickelnd. Ich schlafe ziemlich schlecht in letzter Zeit, da mich beinah jede Nacht Albträume plagen.“

 

„Worum geht es in diesen Träumen?“

 

„Eigentlich ist es immer derselbe Traum, mit leichten Variationen. Ich laufe durch eine Geisterstadt und suche jemanden, den ich dringend finden muss. Dann werde ich entweder von einem zusammenstürzenden Gebäude erschlagen, falle in einen Riss, der sich plötzlich vor mir auftut, werde zerquetscht, verbrenne oder wache vorher schon auf, weil etwas absolut Tödliches auf mich zu fliegt.“

 

Dr. Schmitter, der aufmerksam zugehört hatte, schwieg einen Moment, wartete anscheinend darauf, dass er noch mehr sagte. Als dies nicht der Fall war, nickte er. „Das klingt nach einem Erlebnis, das Sie sehr mitgenommen hat und nicht so leicht loslässt. Gibt es ein solches in Ihrem Leben?“

 

Mathis seufzte tief. „Ja und nein. Ich bin geschieden, aber das ist es nicht. Meine Exfrau und ich hatten uns einfach nichts mehr zu sagen, deshalb gehen wir getrennte Wege. Es ist auch bereits zwei Jahre her. Die schlimmen Träume haben aber erst vor etwa sieben oder acht Wochen begonnen. Sie sind so intensiv, dass ich nicht aufhören kann, darüber nachzudenken. Wissen Sie, ich habe schon geforscht, ob es die Stadt, durch die ich im Traum ständig renne, wirklich gibt. Bis jetzt bin ich noch nicht fündig geworden, aber ich kenne mich mittlerweile ziemlich gut dort aus. Wenn sie nicht jedes Mal so zerstört wäre und die Einwohner mit mir reden würden ...“

 

„Also handelt es sich nicht um einen Ort, an dem sie schon mal waren?“

 

„Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.“

 

„Sie sagten, dass Sie im Traum jemanden suchen. Können Sie mir sagen, um wen es sich dabei handelt?“

 

„Ja“, flüsterte Mathis und schluckte. „Seit letzter Nacht weiß ich es endlich. Da habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Hübsch, schlank, mit sportlicher Figur, ungefähr im gleichen Alter wie meine Tochter ...“

 

Er beschrieb die junge Brünette mit den strahlend blauen Augen, deren Gesicht er ohne Probleme hätte zeichnen können. Der Psychologe wandte den Blick nicht von ihm ab, schien jedes Wort von ihm einzusaugen und mitzufühlen. Gleichzeitig strahlte er eine unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit aus. Erst als Mathis geendet hatte, begann der Arzt sich Notizen zu machen, fragte nach Lebens- Ess- und Schlafgewohnheiten, die berufliche und private Situation seines Patienten, ließ sich sein Schlafzimmer beschreiben und erkundigte sich nach eventuellen Medikamenten. Der Lehrer beantwortete alles wahrheitsgemäß. Nein, er nahm weder Drogen noch übermäßig viel Alkohol zu sich. Schlafmittel hatte er anfangs ausprobiert, den Gebrauch jedoch stark begrenzt. Mit Tabletten konnte er vielleicht zwei Stunden länger durchschlafen als ohne, die Albträume ersparten sie ihm nicht.

 

Nachdem er alle notwendigen Fragen gestellt hatte, blickte Dr. Schmitter ihn wieder direkt an. Diesmal lag etwas Nachdenkliches in seinen Augen.

 

„So wie ich es momentan einschätze, liegt Ihr Problem wahrscheinlich irgendwo in Ihrer Vergangenheit. Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass das Labor etwas in Ihren Blutwerten findet, selbst wenn ich Ihnen glaube, dass Sie nichts bewusst eingenommen haben. Aber ich vermute die Ursache in verschütteten Erinnerungen. Eventuell gab es einen Auslöser, den Sie gar nicht als relevant wahrgenommen haben, der Sie jedoch dazu gebracht hat, die unangenehmen, verdrängten Dinge wieder zu erleben.“

 

Mathis seufzte. „Möglich. Aber wie soll ich es rausfinden? Ich erinnere mich einfach an nichts dergleichen, so sehr ich mich auch bemühe.“

 

Der Arzt wiegte leicht den Kopf. „Ich könnte Ihnen anbieten, Sie zu hypnotisieren, um hinter die Ursachen Ihrer Albträume zu kommen. Da Sie privat versichert sind, weiß ich nicht, was Ihre Krankenversicherung dazu sagt. Aber ich versuche, die Kosten so weit wie möglich in die Beratung und weitere Maßnahmen zu integrieren, deshalb wird Ihre Zuzahlung moderat ausfallen.“

 

Mathis schluckte schwer. Hypnose? Direkt spürte er, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Sein Herzschlag beschleunigte sich.

 

„Wie sicher sind Sie denn, dass Sie damit Erfolg haben? Ich meine – ist es nur eine vage Vermutung oder denken Sie wirklich, dass das bei mir funktioniert?“

 

***

 

 

 

???

 

Sie fand sich an einem unbekannten, zugleich merkwürdig vertraut scheinenden Ort wieder. Es war eine ausländische Stadt, die sich von der, in der sie lebte, stark unterschied. Die Häuser sahen alt aus, waren ganz anders gebaut als daheim. Mit Verzierungen an den Fassaden, in verschiedenen Farben gestrichen. Manches Gebäude klebte direkt am nächsten. Wenige Fußgänger eilten den schmalen Gehweg entlang, keiner davon beachtete sie in ihrem Pyjama. Peinlich berührt rannte sie den Weg, den sie schon mehrfach beschritten hatte. Sie kannte ihr Ziel – eines der hohen alten Häuser, in dem sie jemanden treffen wollte. Schneller, sie musste schneller laufen, sonst würde sie zu spät kommen! Zu was, wusste sie nicht. Es war nicht wichtig, darüber nachzudenken. Als sie an der richtigen Tür ankam, bemerkte sie zum ersten Mal das edel aussehende Metallschild.

 

‚Dr. Bernd Schmitter, Psychologe‘, stand darauf. Kleiner darunter: ‚Sprechstunde Mo, Di, Do 9–12 h und 15–18 h, Fr 9–12 h, mittwochs geschlossen‘.

 

Die Worte klangen vertraut, obwohl sie in einer Sprache verfasst waren, die ihr lediglich in einigen Fachbüchern übers Klarträumen begegnete. Sie beherrschte sie eigentlich nicht. Dennoch verstand sie den Inhalt des Schildes, ohne sich darüber zu wundern. Wichtig war jetzt nur, dass sie ihr Rendezvous einhielt, das in ihrem Kopf gerade mächtig viel Raum einnahm, obwohl sie keine Ahnung hatte, wen sie hier warum treffen sollte. Sie stellte die Richtigkeit ihres Tuns nicht in Frage, genauso wenig wie ihre plötzlichen Fremdsprachenkenntnisse. Es kam ihr so vor, als hätte sie das hier schon zigmal getan oder zumindest in Gedanken durchgespielt. Ohne zu zögern öffnete sie die schwere alte Holztür, betrat ein altmodisches Treppenhaus mit hohen Stufen und reich verziertem Holzgeländer. Einen Lift gab es nicht. Ergeben seufzend begab sie sich daran, in den zweiten Stock zu steigen.